Die Seine ist der einzige Fluss der Welt, der zwischen zwei Bücherregalen fließt

Das Thema der „Bouquinisten“, Pariser Verkäufer von gebrauchten oder antiken Büchern, Zeitschriften, Postkarten und kleinen Kunstwerken Büchern in grünen Kisten entlang der Seine, faszinierte mich während meines Spaziergangs in Paris. Diese traditionellen Händler, ein immaterielles französisches Kulturerbe seit dem 18. Jahrhundert, prägen das Pariser Stadtbild und die kulturelle Identität.

Als 2020 die letzte deutsche Buchhandlung in Paris schloss, suchte die ehemalige Besitzerin Iris Mönch-Hahn, die seit Langem in der Stadt lebt, einen neuen Weg, ihre Leidenschaft für den Buchhandel fortzusetzen. Sie bewarb sich im Januar 2023 bei der Stadt Paris und wurde als Bouquiniste nominiert. Bald darauf eröffnete sie ihre eigenen Bouquiniste-Kisten am Ufer der Seine. Iris Mönch-Hahn reiht sich nun unter die Verkäufer entlang des Quai Voltaire ein, die aus ihren dunkelgrünen (‚vert wagon‘) Kisten Bücher anbieten. Mit ihrem Stand ist sie die erste deutsche Bouquiniste an diesem historischen Ort in Paris.
Im November 2023 besuchte ich Iris Mönch-Hahn am linken Seine-Ufer, gegenüber vom 17 Quai Voltaire im 7. Arrondissement. Sie entführte mich in ihre Welt und zeigte, was Leidenschaft für Literatur alles bewirken kann.
Lassen wir Iris selbst zu Wort kommen:

„Bouquiniste bin ich aus der Not geworden, als ich 2020 meine Buchhandlung wegen der Streikwelle und der ‚Gilets Jaunes‘ schließen musste – denn lieber wäre ich als ‚echte‘ Buchhändlerin weiter tätig gewesen. Die Idee dazu kam mir, da ich selbst gern an Wochenenden entlang der Seine spaziere und oft bei Bouquinistes Bücher kaufe. Mit überschaubaren Investitionskosten von 5.000 bis 7.000 Euro für die grünen Kisten, die man gebraucht oder neu erwerben kann, und dank der kostenfreien Miete durch die Stadt Paris, da die Bouquinisten zur Attraktivität der Stadt Paris beitragen, erschien mir dieser Umstieg als praktikable Lösung.

Für diesen Job sind keine speziellen Voraussetzungen nötig, doch Camping-Erfahrung kann hilfreich sein, obwohl das persönlich nicht mein Ding ist. Die Arbeit ist körperlich anspruchsvoll. Allein das Gewicht der Dächer meiner Kisten beträgt 30 Kilogramm, und ich benötige Unterstützung, um sie zu öffnen. Ähnlich dem Camping ist man bei jedem Wetter draußen, was eine gewisse körperliche Fitness erfordert. Je früher man damit beginnt, desto besser. Auch ist viel Geduld gefragt. Ich habe Stammkunden aus meiner ehemaligen Buchhandlung, die mich immer noch regelmäßig besuchen. Es gibt jedoch auch Tage, an denen ich fast nichts verkaufe. Manchmal stehe ich sechs Stunden lang da, im Sommer bei 35 Grad oder im Winter knapp unter Null. Unter uns Bouquinistes gibt es den Ausdruck ‚On a fait la bulle‘ für Tage ohne Einnahmen, was so viel bedeutet wie ‚Wir haben eine Luftblase verdient‘.

Meine Schatzkisten öffne ich, sobald das Wetter es zulässt. Die genauen Öffnungszeiten gebe ich über meine Story auf Instagram, Facebook und Twitter unter dem Namen ‚bouquinisteallemande‘ bekannt. Es ist frustrierend, wenn während der Hauptreisezeit viele Menschen vorbeiströmen, ohne unsere Buchkisten auch nur eines Blickes zu würdigen. Manche nutzen uns Bouquinistes nur als Selfie-Kulisse, ohne zu realisieren, dass dies unsere Geschäfte sind. Im Gegensatz dazu betreten die meisten Menschen eine Buchhandlung normalerweise mit dem Ziel, ein Buch zu suchen oder zu kaufen.

Nur wenige von uns hier sind echte Buchhändler. Es ist auch wichtig, den Überblick darüber zu behalten, welche Bücher man in welcher Kiste hat. Meine Sammlung ist ähnlich wie in einer Buchhandlung strukturiert und in drei Bereiche gegliedert. Die erste Kiste enthält Bücher über Kunst und Musik. Die zweite und dritte Kiste beinhaltet Literatur, die von A bis Z alphabetisch sortiert ist, sowohl in den Originalsprachen als auch in Übersetzungen vom Deutschen ins Französische und umgekehrt. Die vierte und letzte Kiste umfasst Bücher über Philosophie, deutsche und französische Geschichte sowie alles, was mit Paris zu tun hat.

Marcel Proust ist mein Lieblingsautor aus Frankreich. Ich war lange Mitglied der Marcel-Proust-Gesellschaft in Deutschland. Meine Begeisterung für Proust entfachte 1983 durch Volker Schlöndorffs Film ‚Eine Liebe von Swann‘. Besonders beeindruckten mich die Geschichte, das Dekor und die herausragenden Schauspieler, darunter Alain Delon. Nachdem ich recherchierte, erfuhr ich, dass der Film auf Prousts Roman ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘ basiert. Daraufhin vertiefte ich mich in sein Werk. Meine Abiturarbeit verfasste ich über die Bedeutung der Metapher in ‚Im Schatten junger Mädchenblüte‘ – und das auf Französisch. Dieses Buch liegt immer auf meinem Nachttisch, und ich lese es regelmäßig. Auch die Werke von Michel Houellebecq und Amélie Nothomb, besonders ihre kurzen, skurrilen Bücher, gefallen mir. Ebenso schätze ich Balzac und Flaubert, die großen Klassiker.

in Paris gibt es etwa 220 bis 230 Bouquinistes, jeder mit den bekannten vier grünen Kisten, manche sogar mit fünf, falls die Kisten kleiner sind; dabei darf die Standlänge von acht Metern nicht überschritten werden. Einige Bouquinistes sind schon seit 50 oder 60 Jahren hier, darunter eine über 80-jährige Dame aus einer Bouquiniste-Familie. Sie erinnert sich noch an die Zeit, als das Musée d’Orsay ein Bahnhof war. Andere kamen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, suchten einen beruflichen Ausstieg, teils schon in jüngeren Jahren, wobei die berufliche Freiheit stets wichtig war.

Vom Verkauf allein kann man nicht leben, es sei denn, man verkauft zusätzlich touristische Souvenirs, was eigentlich verboten ist. Diejenigen, die ausschließlich Bücher anbieten, haben oft Nebenjobs, manche betreiben zum Beispiel einen Verlag. Laut Reglement des Bouquinistes des Quai de la Seine sollte man mindestens vier Tage pro Woche anwesend sein. Oft genießt man jedoch „la liberté“ – eine gewisse Freiheit, da es nur wenige Kontrollen gibt. Die Begegnungen mit Menschen aus aller Welt und die interessanten Gespräche helfen, die Nachteile des Bouquiniste-Berufs, wie die große Abhängigkeit vom Wetter, zeitweise zu vergessen. Während der Wintermonate bis Mitte März befinden die Buchkisten mehrheitlich im Winterschlaf und sind daher größtenteils geschlossen. Es gibt jedoch spontane Öffnungszeiten, abhängig von Wetterbedingungen und Temperaturen. Aktuelle Informationen zu diesen gelegentlichen Öffnungen werden über Instagram, Facebook und Twitter bekanntgegeben.“

Schließen möchte ich mit Amelie Nothombs kritischer Auffassung über das Leseverhalten und die Rezeption von Literatur: „Im Grunde lesen die Leute nicht; wenn sie aber lesen, verstehen sie nicht; oder wenn sie verstehen, vergessen sie.“

4 Kommentare zu „Die Seine ist der einzige Fluss der Welt, der zwischen zwei Bücherregalen fließt“

  1. Danke für diesen interessanten Einblick in die Bouquinisten- werde beim nächsten Besuch in Paris mit besonderer Aufmerksamkeit dort stöbern und nach Iris Mönch-Hahn Ausschau halten.
    Ich finde diesen Blog immer sehr inspirierend. Danke.

  2. Rosmarie Streicher

    Ein wunderbarer Artikel. Passion für eine Sache kompensiert oft den Mangel an Interesse der Mitmenschen und auch den damit oft zusammenhängenden ökonomischen Nachteilen. Ich hab „L’Agenda de Mozart“ von den Bouquinisten. Eine Agenda für 2006 mit Goldschnitt. Es lohnt sich zu stöbern. Das Konzert ohne Dichter ist übrigens wunderbar.

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