„Was genau wirst du sieben Tage lang in einem winzigen Turmzimmer machen?“, fragten mich meine Freunde und Familie, als ich ihnen von meinem Vorhaben berichtete, mich für sieben Tage als Turmeremitin zurückzuziehen.
Der Eremit ist ein erfahrener Wanderer, der einen geistigen Schatz sucht und weiß, dass er diesen in sich selbst und mit dem Herzen suchen muss.
So beschreibt Niki de Saint Phalle die Figur des Eremiten in ihrem berühmten Giardino dei Tarocchi in der Toskana.
Im frostigen Februar 2024 stieg ich als Turmeremitin in die abgeschiedene Kammer des Linzer Mariendoms empor, ein Refugium in schwindelerregenden 68 Metern Höhe. Jeder meiner Schritte auf der endlos wirkenden Wendeltreppe, die sich über 395 Stufen windet, führte mich tiefer in eine Welt der Stille und Besinnung. Ich wurde die 319. Bewohnerin dieses einzigartigen Zufluchtsorts.
Warum ich mich zu diesem Abenteuer entschloss? Nach Jahren im Ausland zog es mich, eine gebürtige Linzerin, zurück zu den Wurzeln meiner Vergangenheit, getrieben von dem Verlangen, die vertrauten Straßen meiner Kindheit aus einer völlig neuen Perspektive zu erleben. Ich sehnte mich danach, meine spirituelle Seite in der Abgeschiedenheit des neun Quadratmeter großen Turmzimmers des Mariendoms zu erkunden, ein Ort, der einst während des Zweiten Weltkriegs als Wachposten diente. Nach monatelanger Vorbereitung anhand zahlreicher Schriften über das eremitische Leben, wollte ich die tiefe Stille und die Herausforderung erfahren, mich zumindest für eine Weile in die Rolle einer Einsiedlerin zu begeben und die verschiedenen Motivationen hinter einem solchen Lebensentwurf am eigenen Leib zu spüren.
Übrigens war ich nicht gänzlich allein: Ein Turmfalke, der in majestätischem Gleitflug den Turm umkreiste und dabei eindrucksvoll seine Balzrufe erschallen ließ, wurde zu meinem stetigen Gefährten. Engel hingegen bekam ich keine zu Gesicht …
Zu den eindrucksvollsten Erlebnissen für mich gehörten zwei nächtliche Besuche im neugotischen Kirchenschiff der Kathedrale, die nicht nur die größte Österreichs ist, sondern außerhalb der regulären Öffnungszeiten exklusiv für mich als Turmeremitin zugänglich war.
Die Atmosphäre, geprägt vom Flackern der gelben Kerzen, die mystische Stille und die spürbare Präsenz der Geschichte ließen mich in eine ganz andere Welt eintauchen.
Ein unvergesslicher Vorfall ereignete sich, als ich, in meinen roten Mantel gehüllt und passende rote Stiefel tragend, versehentlich den Mesner zu Tode erschreckte, der etwas in der Kirche vergessen hatte. In der düsteren Stille, nur von meiner Stirnlampe erhellt, hielt er mich in jenen Sekunden für den Teufel selbst.
Die Zeit im Turm vergeht schnell, und es steht jedem Eremiten frei, sie nach Belieben zu gestalten. Für all jene, die einen Gedankenaustausch suchen, wird täglich eine Stunde „spirituelle Begleitung“ angeboten, organisiert durch das Domcenter. Ich hatte das große Glück, Hertha zu begegnen, einer herzlichen und empathischen Frau, mit der ich mich über Gott und die Welt unterhielt, im wahrsten Sinne des Wortes. Gemeinsam erkundeten wir den botanischen Garten, besuchten Orte meiner Kindheit oder kehrten in einem der Cafés der Innenstadt ein. Darüber hinaus ist es jedem Eremiten gestattet, an den vielfältigen kirchlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dies umfasst unter anderem Messbesuche, Domführungen, spezielle Erläuterungen zu den prächtigen Farben und der Geschichte der Kirchenfenster, die Möglichkeit zur Beichte sowie den Besuch von Konzerten.
Das nahe gelegene Kolpinghaus übernimmt die wirklich köstliche und mit Liebe vorbereitete Verpflegung und stellt täglich um elf Uhr einen Rucksack bereit, der ein individuell abgestimmtes warmes Mittagessen, Abendessen und Frühstück für den Eremiten enthält. Der Proviant wird am Fuß der Treppe platziert und kann von dort aus mitgenommen werden. Alternativ besteht die Möglichkeit, direkt im Kolpinghaus zu Mittag zu essen.
Jeden Tag erklomm ich die neugotischen Wendeltreppen zum Turmzimmer, vorbei an den sieben prachtvoll verzierten Glocken – ein einzigartiges Ensemble im deutschsprachigen Raum, das den Schmelzöfen des Zweiten Weltkriegs entkam. Die Turmuhr mit ihrem goldenen Zifferblatt von über vier Metern Durchmesser wachte über meinen Weg, während sich mir atemberaubende Ausblicke auf die Stadt offenbarten. Diese tägliche Kletterpartie verwandelte sich unerwartet in ein intensives Fitnessprogramm. Viermal täglich stieg ich hinauf und hinab und bemerkte erfreut, wie ich Tag für Tag schneller und fitter wurde.
Die einzige Aufgabe, die den Turmeremiten obliegt, besteht darin, ihre Eindrücke und Gefühle in das im Zimmer bereitliegende safrangelbe Tagebuch zu schreiben. Die ersten beiden Abende verbrachte ich mit dem Lesen der mittlerweile elf dicken Bände und begab mich auf eine spannende Reise in die Tiefen der menschlichen Seele, mit heiteren, bewegenden und nachdenklich stimmenden Momenten.
Ich, die Musik liebt, empfand die Stille, die nur durch den Klang der sieben Glocken erfüllt wird, als befreiendes Geschenk, ebenso wie das digitale Fasten. Am Tag vor meinem Aufenthalt hatte ich mir Ziele notiert, die ich innerhalb dieser sieben Tage erreichen wollte: zehn Bücher lesen, 30 Briefe verfassen und eine Grundstruktur für mein neues Buch entwickeln.
Meine beste Idee war gewesen, meinen Freundeskreis darum zu bitten mir Gedichte, Zitate oder Buchauszüge mit in den Turm zu geben. Die für mich meist unbekannten 34 Texte beflügelten mein Eremitinnendasein.
Überraschenderweise vertiefte ich mich intensiver ins Lesen und Schreiben, als ich es ursprünglich vorhatte. Die 24 Stunden täglich, befreit von allen Verpflichtungen und Ablenkungen, dehnten sich wunderbar aus und versetzten mich in einen Zustand euphorischer Produktivität.
Als geborene Linzerin trug ich seit langem das Bedürfnis in mir, mit den Schatten meiner Kindheit und Jugend ins Reine zu kommen und die wahre Essenz des Heimatgefühls zu ergründen. War es der atemberaubende Blick von einem höheren Standpunkt aus, der alles veränderte? Plötzlich fielen die Puzzleteile meines Lebens an ihren Platz, als ich meine Vergangenheit aus dieser neuen, erhabenen Perspektive betrachtete. Es war, als hätte ich durch die Distanz die Schönheit und Komplexität meiner Heimatstadt Linz mit neuen Augen gesehen. Dadurch fand ich endlich den lang ersehnten Frieden mit meiner verlustreichen Vergangenheit.
Als ich die alten, knarrenden Beichtstühle sah, wurde ich schlagartig in meine Kindheit zurückversetzt. Damals, ein ängstliches achtjähriges Mädchen, gezwungen, vor einem dürren und greisen Pfarrer mehr Sünden zu gestehen als die unschuldigen drei, die mir einfielen. Kniend vor dem vergitterten Fenster, umhüllt vom modrigen Duft des Holzes, hatte ich Angst vor dem Beichtzimmer. Und so fasste ich nun den Entschluss: Nach einem halben Jahrhundert wollte ich mich erneut dem stellen, was man heute „Aussprache“ nennt. Dieser Schritt entpuppte sich als eine Reise voll unerwarteter Wendungen. Statt der erwarteten Buße fand ich mich in einem tiefgründigen Dialog wieder, einem Gespräch, das eher einer herzlichen Unterredung mit einem weisen Mentor glich. Der Priester, weit entfernt von jedem Vorwurf, empfing mich mit einer fast väterlichen Güte und verstand meine Entscheidung, die Kirche zu verlassen, ohne zu richten. Auf meine Frage nach der Bedeutung von „Sünde“, antwortete er mit einem durchdringenden Lächeln: „Alles, was Trennung schafft.“ Diese einfache, doch tiefgreifende Erklärung revolutionierte mein Verständnis von Reue und Erlösung.
In einer Welt, die von unerbittlichem Lärm und einem endlosen Strom düsterer Nachrichten beherrscht wird, erlebt das mystische Streben nach der Einsamkeit eines Eremitenlebens eine faszinierende Wiederbelebung. Klöster auf der ganzen Welt haben diesen Durst nach Stille erkannt und bieten Zufluchtsorte an, die nicht nur der Seele, sondern den jeweiligen Orten auch wirtschaftlich helfen.
Erschöpft von der unermüdlichen Schnelllebigkeit des modernen Lebens, suchen immer mehr Menschen Zuflucht in diesen heiligen Hallen, verlangen nach einem Hauch von Magie, einem Ort, an dem die Zeit stillsteht und man sich in die grenzenlose Freiheit der eigenen Gedanken fallen lassen kann. Die Eremiten des Mariendoms waren zwischen 17 und 85 Jahren alt und kamen aus völlig unterschiedlichen Berufsfeldern, Religionen und Gegenden.
Das Linzer Turmeremitenzimmer, das weltweit einzigartig ist, wurde 2009 anlässlich der „Kulturhauptstadt Linz“ durch die visionäre Idee von Hubert Nitsch ins Leben gerufen, der damit eine außergewöhnliche Tradition begründete. Mittlerweile erstreckt sich die Warteliste für einen Aufenthalt in den luftigen Höhen des Mariendoms auf nahezu zwei Jahre.
Was ich gelernt habe? Stille schärft das Gehör des Herzens. Fragen finden in dieser Ruhe ganz besondere Antworten.
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eine tiefgründige, offene und herzwärmende Reflexion Deiner Eremiten Tage.
Freue mich Dich bald zu sehen-erleuchtet?😀😀
Ursula
Liebe Ursula, vielen Dank – ich melde mich für ein Treffen,
Christa
Eine spannende Reise, beeindruckend und anregend! Bin gespannt, wie du das Leben danach empfindest. Großen Respekt für deinen Mut und deine Disziplin! Gerald /Wien
Ja, es war wirklich ein Erlebnis. Und so viel Mut hat es gar nicht gebraucht !
Alles Liebe, Christa
Die Szene mit dem Mesner stelle ich mir köstlich vor! Zumindest für Dich! 😉
War auch wirklich amüsant !
Selber Linzerin, Schreibende und seit gefühlt ewig in der Schweiz lebend kommt mir dieser bereichernde Text sehr gelegen. Vielleicht „back to the roots“. Aber bald einmal und nicht erst in zwei Jahren. In Linz beginnt‘s und endet so Vieles ❤️
Liebe Andrea, wie spannend ! Habe mir gerade deine Website angesehen. Vielleicht treffen wir uns ja mal ?
herzlichst, Christa
welche Chance, das Alltägliche völlig neu betrachten zu können..
wieviel Stille, die zum intensiven Wahrnehmen des Lebens führen kann.
wieviel Fragen und welch plötzliche Klarheit.
danke, dass du auch für mich die vielen Stufen gestiegen bist und in der Nacht die Dunkelheit der Kirche erleben konntest.
Es war magisch! Empfehle eine Führung im Dom !
Ich war schon total gespannt auf deinen Bericht! Wirklich sehr eindrucksvoll und auch für mich sehr bereichernd!
Auf meine Frage nach der Bedeutung von „Sünde“, antwortete er mit einem durchdringenden Lächeln: „Alles, was Trennung schafft.“
Ganz wunderbar. Es entspricht meinem spirituellen Verständnis. Dies aus dem Munde eines katholischen Pfarrers zu hören, beglückt mich. Überhaupt hat mir der ganze Text sehr gefallen, liebe Christa. Danke fürs Teilen
Vielen Dank liebe Jacqueline, es war wirklich etwas besonderes !