Die Mehrzahl der Passagiere stand am Bug des Schiffes und schaute einer neuen Heimat und einer neuen Zukunft entgegen. Wir blickten zurück auf unsere verlorene Heimat Europa und auf unsere zerstörte Zukunft dort, die sich immer weiter von uns entfernte.“
Vor 1914 gehörte die Welt der ganzen Menschheit. Jeder konnte reisen, wohin er wollte, und überall so lange bleiben, wie es ihm gefiel. Kein Pass, kein Visum wurde verlangt…
Anfang Juni erfüllte ich mir einen Traum: Sieben Tage lang reisten mein Mann und ich mit der Queen Mary 2 von Southampton nach New York – ein „Crossing“, keine „Cruise“, denn das Schiff legt unterwegs nirgendwo an. Ich wollte das Gefühl nachempfinden, den Atlantik von Europa nach Amerika zu überqueren, so wie es rund 15 Millionen Menschen zwischen 1880 und 1950 getan haben, von denen übrigens etwa 60 Prozent der heutigen US-Bevölkerung abstammen. Ich wollte verstehen, wie es für all jene freiwilligen und unfreiwilligen Reisenden gewesen sein muss, die Freiheitsstatue während der langsamen Einfahrt in den Hafen von Manhattan zu sehen.
Die Idee kam mir bei der Recherche zu meinem zweiten Buch Das mit der Liebe ist alles ein Schwindel, als ich die 47 Briefe von Frank Plank las – jenem Mann, auf den meine Tante Toni als Zwanzigjährige hereingefallen war. Sie liebte ihn, er aber fügte ihr viel Schmerz zu. Er war ein Hallodri, der Europa heimlich verließ, um in Amerika „viel Geld zu verdienen“. In seinen Briefen an sie beschreibt er seine Überfahrt im August 1923 von Bremen nach New York. Bis 1927 meldete er sich regelmäßig. Der letzte Brief kam schließlich von seinem Bruder, der von Franks Heirat mit einem „leichten Mädchen“ berichtete, … aber das könnt ihr alles in meinem Buch nachlesen.
Die Queen Mary 2 ist heute der einzige Ozeandampfer, der regelmäßig die legendäre Transatlantikroute befährt. Das majestätische Schiff, das an seine berühmte Vorgängerin, die 1936 gebaute Queen Mary, erinnert, überquert seit 2004 den Atlantik: stilvoll, kraftvoll und mit einer Aura von Grandezza. Der markante rot-schwarz lackierte Schornstein wirkt, im Gegensatz zu den heutigen Kreuzfahrtriesen, fast königlich.
Während des Zweiten Weltkriegs spielten die damaligen Atlantikrouten eine bedeutsame Rolle: Schiffe wie die Queen Mary transportierten nicht nur normale Passagiere, sondern in streng geheimer Mission auch Soldaten und Ausrüstung. Auf einer Überfahrt im Jahr 1943 wurden zum Beispiel an Bord der Queen Mary 1 rund 16.000 Soldaten unauffällig in fünfstöckigen Etagenbetten in den unteren Decks versteckt, die nie entdeckt wurden.
Für die heutige Queen Mary 2 charakteristisch ist ihr langer, schmaler Bug, ganz anders als die heutigen Kreuzfahrtschiffe, die oft eher wie schwimmende Hotelanlagen wirken mit Wasserrutschen, bunten Logos und bemalten Bugfronten. Die Queen Mary 2 hingegen bleibt ein Symbol der klassischen Seereise.
Wer sind die Menschen, die eine solche Transatlantikreise unternehmen, auf derselben Route wie einst die Titanic? Schon während meiner Vorbereitung, als ich über Ozeandampfer und Emigration las, ahnte ich es: Viele der etwa 2.000 Passagiere reisen auf den Spuren ihrer Vorfahren nach Amerika. Das habe ich bei so manchen Gesprächen mit Mitreisenden bestätigt gefunden. Andere möchten nicht fliegen oder sind Nostalgiker, Geschichtsliebhaber, die das Flair vergangener Zeiten suchen, die Eleganz der 1930er-Jahre, das Echo der großen Auswanderungswellen, die Spuren berühmter Passagiere wie Marlene Dietrich, Billy Wilder, Joseph Pulitzer, Henry Kissinger oder Thomas Mann.
Es ist ein bewusst gesetzter, langsamer Übergang zwischen zwei Welten: Statt Jetlag (man stellt die Uhr jede Nacht eine Stunde zurück) erlebte ich eine Woche des Ankommens. Ich habe diese Überfahrt intensiv gelebt, versucht, das Abschiednehmen, die Angst, die Vorfreude der Auswanderer nachzuempfinden. An Bord befindet sich die größte schwimmende Bibliothek der Welt mit fast 10.000 Bänden zu historischen, maritimen, biografischen und geografischen Themen. Atlanten liegen bereit, um die Route mit den Augen nachzuvollziehen. Der Juni gilt als die ruhigste Zeit für eine Atlantiküberquerung. Bequeme englische Fauteuils stehen direkt vor den Bugfenstern. Ich las stundenlang, den Blick auf Wellen und Unendlichkeit gerichtet, über jene, die einst mutterseelenallein und ohne ein Wort der neuen Sprache diese Reise wagten, von Ungewissheit gelähmt.
Die Temperaturen allerdings können frisch sein, das Liegen auf den klassischen Deckchairs erinnert eher an die Nordsee als an die Riviera. Die Nebelphasen, in denen die Queen Mary 2 durch dichte, graue Schwaden glitt, als hielte der Ozean den Atem an, ließen mich an die Titanic und ihre Besatzung denken, die den fatalen Eisberg erst in letzter Sekunde sah. Die Geschichte der Titanic ist an Bord mit historischen Fotografien, Kommentaren von Überlebenden und Zeitzeugnissen an den Wänden eindrucksvoll dokumentiert. Es war ein Schiff der Cunard Line (zu der die Queen Mary 2 ebenfalls gehört), die RMS Carpathia, die damals die Rettungsboote der Titanic sichtete und die Überlebenden aufnahm.
Der Kapitän, der täglich um 12 Uhr Kurs und Wetterverhältnisse für die kommenden Stunden bekanntgab, zeichnete sich durch seine charismatische Ausstrahlung, seinen trockenen englischen Humor und seine dreißigjährige Erfahrung an Bord aus. Besonders berührte mich sein Hinweis am fünften Tag: Wir befänden uns nun in der Nähe jener Stelle, an der die Titanic gesunken sei. Aus Respekt, so erklärte er, fahren Kapitäne niemals direkt über den Ort, an dem das Wrack in 3.800 Metern Tiefe auf dem Meeresgrund liegt, verstreut über mehrere Quadratkilometer.
Täglich drehten wir unsere Runden auf dem umlaufenden Promenadendeck. Die überdachte Strecke mit seitlichen Öffnungen lud ein zum Gehen, zum Staunen, zum Innehalten. Der Blick auf das wechselnde Blau des Atlantiks, durchzogen von weißen Schaumkronen, ließ ein Gefühl von Ewigkeit aufkommen.
Da klang mir Donovans Atlantis in den Ohren, diese Ballade von der versunkenen Insel, voller Sehnsucht und Geheimnis. Ich blickte ins tiefe Meer und konnte mir die sagenhafte Stadt durchaus vorstellen: prachtvolle Tempel, Wassergräben, ein Schrein für Poseidon. Doch mit dem Hochmut kam der Untergang. In nur einem Tag, so erzählt Platon, verschlang das Meer die Insel für immer.
Übrigens: Auf der ganzen Strecke sieht man keine Vögel. Sie verabschieden sich kurz nach „Bishop’s Rock“, dem westlichsten Zipfel Europas, und tauchen erst nahe der amerikanischen Küste wieder auf.
Die Queen Mary 2, 2003 von Queen Elizabeth II. in Auftrag gegeben und einst als teuerstes Passagierschiff der Welt gefeiert, birgt viele Besonderheiten, wie den einzigen Hundezwinger auf einem Kreuzfahrtschiff: Platz für rund 25 Tiere, betreut von eigenem Personal. Die Vierbeiner genießen ihren Aufenthalt mit „Auslaufdeck“, einem original New Yorker Hydranten und einem britischen Laternenpfahl, Heimatgefühl für Hunde. Ein Zwingermeister sorgt liebevoll für ihr Wohlergehen. Für die stets sehr stilvoll gekleideten Gäste – der Altersdurchschnitt liegt bei 65 Jahren – gibt es einen großen Ballsaal, in dem ein Orchester regelmäßig zum Tanz lädt: Walzer, Tango, Foxtrott. Wer keinen Tanzpartner hat, kann sich einem sogenannten Taxi Dancer anschließen. Jeden Abend ist Programm, Konzerte, Musicals, Theater. Zudem halten Autorinnen, Wissenschaftler und Künstler Lesungen und Vorträge. Und natürlich darf der klassische britische Afternoon Tea nicht fehlen, serviert im Queens Room auf feinem Porzellan, begleitet von Harfenmusik und weißbehandschuhten Kellnern.
Einzigartig auf See ist auch das Planetarium im Theater „Illuminations“. Dazu kommen ein Kino, eine höchst interessante Kunstgalerie und ein gut ausgestattetes Bordhospital, das auch über eine eigene Zelle für renitente Passagiere verfügt. Zehn Bars und Lounges, darunter ein britischer Pub, laden zum Verweilen ein und ebenso wie viele Restaurants.
Das Personal, über 1.000 Menschen, stammt überwiegend von den Philippinen, aus Indonesien, Indien und anderen asiatischen oder auch afrikanischen Ländern. Sie arbeiten neun bis zehn Monate ohne freien Tag, gefolgt von zwei bis drei Monaten Urlaub. Viele betrachten die Queen Mary 2 als ihr zweites Zuhause. Bei Heimweh, das, wie mir ein junger Koch aus Madagaskar erzählte, im Durchschnitt eine Woche bis zwei Monate dauert, werden sie psychologisch unterstützt. Nicht selten finden sich Paare unter der Crew, die heiraten und anschließend eine gemeinsame Kabine erhalten. Die anderen teilen eine Kabine zu dritt. Ich sprach mit einigen von ihnen. Sie erzählten mit Stolz, wie sie bei ihrer Rückreise in die Heimat jeweils am Hafen ihre Familie am Kai stehen sehen. „Wir fühlen uns dann wie Helden“, sagte einer. „Meistens denken wir: Diesmal bleiben wir zu Hause. Aber nach drei Monaten ruft das Meer und das Geld.
Das Personal ist freundlich und sehr gut ausgebildet, leicht ergibt sich ein Gespräch. So erfuhr ich, dass manche Damen mit fünf bis sechs Koffern reisen. Die bisherige „Gepäckkönigin“ war eine Amerikanerin mit sage und schreibe 17 Koffern. Niemand wusste, wo sie diese eigentlich untergebracht hatte.
Der Höhepunkt der Reise ist für viele die Ankunft in New York, frühmorgens gegen fünf Uhr. Schon um 4.30 Uhr füllte sich das oberste Deck. Viele standen still, manche im Pyjama. Der Kapitän hatte angekündigt, dass wir um 4.45 Uhr die zweistöckige Verrazzano-Narrows-Bridge unterqueren würden, die edle Hängebrücke, die Staten Island und Brooklyn über die Meerenge verbindet. Der höchste Punkt der Queen Mary 2, der Fahnenmast, an dem kurz zuvor die amerikanische Flagge gehisst wurde, passte mit wenigen Meter Abstand darunter hindurch. Und dann war da diese Stille. Eine fast ehrfürchtige Ruhe. Wie in der Oper, bevor die Ouvertüre startet, nur dass das Orchester eine Wellensymphonie spielte.
Nach weiterer langsamer Fahrt erschien an unserer Backbordseite im ersten Licht des Morgens die blassgrüne Freiheitsstatue: Hoffnungsträgerin, Mutterfigur, Sinnbild des Ankommens. Ich hatte viele Beschreibungen von Emigranten und Ankommenden gelesen, die sie als Ziel all ihrer Hoffnungen schildern. Doch wenn man sie selbst sieht, mit ihrer Fackel, mit ihrer stillen Würde in einer unruhigen Welt, fast wie damals, bekommt man eine Gänsehaut.
Alles über die Queen Mary 2
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Liebe Christa,
Genau so war es, als wir am 22. Mai 1975 Jörg und ich und klein Aline das grosse Schiff Michelangelo in Genua bestiegen, um nach NY auf dem Wasserweg zu gelangen, Das war die letzte Uenerfahrt des italienischen Schiffs, ich glaube päter diente es als Spital in einem Hafen in Italien. Wir hielten kurz in Barcelona und Madeira, dann die 8 Tage Ueberfahrt, sehr eindrücklich. Das italienische Menü war reichhaltig, so dass Jörg immer rund um’s Dack sprang, um Bewegjng zu haben. An eine Biblothek mag ich mich nicht erinnern, aber ans Kino, Bingo und grosses Fest, als wir über den Aequator fuhren, Die Ankunft unter Verrazzano-Brücke war morgens um 6h, alles wach und gespannt. Das Schiff hielt im Dock 50 und wir stiegen fast als letzte aus. So hatten wir die selben Erlebnisse. In NY besuchten wir die grossen Museum um spätert einen Flieger nach Tucson Arizona zu nehmen, zur jüngeren Schwester von Jörg, die heute noch dort wohnt. Liebe Grüsse Magda
Liebe Christa
Das ist ein ganz wunderbarer Reisebericht, welcher der ehrwürdigen Queen Mary II alle Ehre macht. Selbst auf dieser Atlantik- Überquerung mit an Bord gewesen zu sein, empfinde ich nun erst recht als Privileg und ganz bestimmt als unvergessliches Erlebnis.
S. Andrey
Liebe Susanne,
vielen Dank – ja ich sah die Reise auch als Privileg !
herzlichst,
Christa
Sehr interessanter Beitrag, danke. Ja, wir haben weitgehend vergessen, dass auch die Schweiz einmal ein Auswanderungsland war und viele Menschen aus unserem Land verzweifelt „auf der anderen Seite des Meers“ eine neue Heimat mit mehr Zukunft erhofften. Ich habe die Queen Mary II schon mehrmals in „unserem“ Hafen (Vigo) gesehen, sie ist wahrhaftig imposant. Leider sind wir uns zu wenig bewusst, wie stark diese Schiffe unsere Meere verschmutzen und welch Problem sie für die Meeresfauna darstellen.
Liebe Karin,
danke für deinen Kommentar und ich bin mit dir einverstanden, dass Schiffe unsere Umwelt belasten !
Ganz herzlich,
Christa
Wow, so schön beschrieben diese Ueberquerung! Heute in feudaler Form, früher unterschied man in drei Klassen.
Vielen lieben Dank, Sina !
Hallo Christa,
Schön, mal wieder was von dir zu lesen. Ich glaube dir gerne, dass diese Überfahrt ein prägendes Erlebnis war.