(c) Diego Moreno - L’engagement

Wenn die Familie im Traum erscheint

Unter diesem Titel veröffentlichte die Psychoanalytikerin Kristina Schellinski 2015 einen Beitrag im Journal für Analytische Psychologie. Als enge Freundin bat ich sie, mit mir über dieses facettenreiche und für viele Menschen relevante Thema zu sprechen.

Unsere Familie prägt uns tiefgreifend. Sie formt uns in der Kindheit, begleitet uns durch Krisen und beeinflusst maßgeblich unsere späteren Beziehungen. Doch sie hinterlässt nicht nur Stärken, sondern oft auch die Lasten vergangener Generationen.

„Träume enthalten oft Symbole für ‚geerbte‘ Komplexe und Traumata, die bis in die vierte oder sogar spätere Generation nachwirken können“, erklärt Kristina Schellinski. Menschen kämpfen häufig nicht nur mit ihren eigenen Konflikten, sondern auch mit den Spuren familiärer Traumata – etwa durch Krieg, Gewalt oder Verlust. Der Schlüssel zur Befreiung liegt darin, diese unsichtbaren Verbindungen aufzudecken und zu verstehen. Nur so können wir belastende Erbschaften ablegen und eine versöhnte Beziehung zu unseren Wurzeln entwickeln.

Ein eigenes Erlebnis hat mir diese Thematik eindrücklich vor Augen geführt. Während der Arbeit an meiner zweiten Biografie Das mit der Liebe ist alles ein Schwindel wurde ich von einem wiederkehrenden Traum verfolgt: braune Stiefel im Stechschritt, ein Bild, das mich wochenlang nicht losließ. Schließlich fand ich die Ursache. Auf einem Foto meiner Großmutter, das ich unzählige Male betrachtet hatte, entdeckte ich ein Detail, das mir bis dahin entgangen war: Sie, die im «Führer» einen Retter sah, trug eine Brosche mit dem Hitlerkreuz. Diese Erkenntnis erschütterte mich, doch sie beendete auch die Albträume. Erst durch den Traum wurde mir bewusst, was ich so lange gespürt aber übersehen hatte – ein aufwühlender, aber klärender Prozess, der mir half, ein verdrängtes Kapitel meiner Familiengeschichte zu erkennen.

Kristina Schellinski forscht zur transgenerationalen Weitergabe von Traumata und zeigt, wie unverarbeitete Erlebnisse der Vorfahren unser Leben beeinflussen. Sie zitiert eine britische Kollegin, Prophecy Colessagt: „Unwissen über die Vergangenheit der Vorfahren kann die individuelle Psyche schädigen.“ Träume können ein wichtiger Schlüssel sein, um diese verborgenen Geschichten und verdrängten Emotionen sichtbar zu machen. Schellinski unterstreicht, wie entscheidend es ist, solche Traumata bewusst zu machen: „Wenn wir zu sehr mit unbewussten Inhalten früherer Generationen gefüllt sind, fällt es schwer, zu uns selbst zu finden”.

Dieser Prozess der Bewusstwerdung erfordert allerdings Geduld und Mut. In meiner Biografiearbeit habe ich mich intensiv mit meiner Familiengeschichte auseinandergesetzt. Dabei entdeckte ich, dass sich manche Themen wie ein roter Faden durch die Generationen ziehen. Die Erkenntnis darüber begann oft im Traum und führte mich zu Familienarchiven, Gesprächen mit Verwandten und der intensiven Beschäftigung mit meinem Stammbaum. Doch selbst, wenn man Muster aufdeckt, ist es nicht immer leicht, sie zu erkennen und zu deuten, lohnt sich einen Blick in die Familienarchive zu werfen, den Stammbaum zu studieren, zu lesen, sich zu informieren und wenn möglich nachzufragen. Ich habe zwei entfernte, betagte Verwandte gebeten, mir einige Fragen zu beantworten, und das Gespräch aufgezeichnet. Zunächst meinten sie, sie hätten nichts zu erzählen, doch dann kamen faszinierende Erinnerungen und mir bislang völlig unbekannte Details ans Licht – am Ende sprachen sie fast zwei Stunden lang. Durch alte Briefwechsel, unbekannte alte Fotos und diese Gespräche entdeckte ich Liebesgeschichten meine Großtanten als junge Frauen – ein Bild, das sie in einem völlig neuen Licht erscheinen ließ.

Kristina Schellinski betont, wie das Unbewusste in diesen Prozessen arbeitet: „Träume, Wiederholungen und Synchronizitäten weisen Nachkommen darauf hin, dass etwas an die Tür ihres Bewusstseins pocht – etwas, das erkannt werden will.“ Sie verweist auf Goyas Bild Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer, das im Kontext transgenerationaler Traumata eine besondere Deutung erhält: Die „Ungeheuer“ symbolisieren oft verdrängte Wahrheiten, die in Träumen zum Vorschein kommen.

Johann Henrich Füssli (1741-1825): Der Albtraum

Die Entdeckung solcher Muster und Symbole kann entlastend wirken und verhindern, dass ungelöste Themen an die nächste Generation weitergegeben werden. „Die Arbeit am familiären Unbewussten ist zentral für die Selbstfindung“, sagt Schellinski. „Sie heilt, macht uns ganz, und lässt uns erkennen, was in unserer Psyche fehlte. Damit üben wir nicht nur eine heilende Wirkung auf uns selbst aus, sondern auch auf die Erinnerung an unsere Vorfahren – und wir erleichtern es unseren Nachkommen, sich mit ihrer eigenen Geschichte auseinanderzusetzen.“

In ihrer Praxis begegnet Schellinski immer wieder Menschen, die mit den Lasten ihrer Vorfahren ringen. Diese können sich auf vielfältige Weise äußern: durch Unfallwiederholungen im gleichen Alter, unerfüllten Kinderwunsch als Folge ungelöster Trauer, symbolhafte Erkrankungen, unausgesprochene Schuldgefühle oder wiederkehrende Schicksalsschläge an bestimmten Daten. Solche Muster zeigen, wie tief familiäre Erfahrungen und Dynamiken unser Leben prägen können.

Ein hilfreicher Ansatz zur Aufarbeitung kann eine Familienaufstellung sein. Diese Methode, die in der systemischen Therapie Anwendung findet, macht verborgene Dynamiken innerhalb eines Familiensystems sichtbar. Sie erfordert Mut, doch sie kann Türen zu einem selbstbestimmteren und erfüllteren Leben öffnen. Schellinski erinnert uns daran: „Wer glaubt, die Vergangenheit sei vergangen und man müsse nur nach vorne schauen, übersieht, dass das Unerkannte und Unverarbeitete wie ein leerer Raum bleibt, der uns daran hindert, unser Leben kreativ und voll entfaltet zu leben.

Beitragsbild: Diego Moreno – L’engagement

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