Die Kulturstätte im Gemeindezentrum Riesbach in Zürich veranstaltete dieses Jahr zum 5. Mal einen Wettbewerb unter dem Motto “Wilder Wuchs von Wörtern”. Das Thema 2020 lautete “Im und am Fluss”, sechs Autorinnen und Autoren wurden ausgewählt ihren Text zu diesem Motto vorzutragen und Einblicke in ihren Schaffungsprozess zu geben.
Hier ist der prämierte Text zum nachlesen:
Flussgedankenspiele
In der Antike opferten junge Mädchen ihre Haarlocken, um die wilden Strömungen der Flüsse zu beschwichtigen.
1965, als ich von besagtem Ritual noch keine Ahnung hatte, betrachtete ich mit meinen vier Jahren die zu einer bedrohlichen Flut angewachsene, fast bis zu unserem Haus reichende Donau, mit vor Schreck geweiteten Augen. Meine Hand fest an die meiner Mutter klammernd, stand ich mit meinen roten Gummistiefeln in tiefen Pfützen und beobachtete, wie der Fluss zusehends stärker über die Pflastersteine schwappte und sich uns näherte. Gott sei Dank begann sich der Hochwasserpegel rechtzeitig zu senken, bevor es zu einer Katastrophe kam, aber der Kraft und Wucht von Wasser zolle ich seit damals gewaltigen Respekt!
Flüsse rufen aber auch beflügelnde Erinnerungen herbei. So brachte mir meine Grosstante Mia, die ausgebildete Pianistin war, tonmalerisch den von Smetana so wunderbar komponierten Lauf der Moldau nahe. Der bereits ertaubte Komponist schildert den Lauf der kalten und der warmen Moldau über die Vereinigung zu einem kraftstrotzenden Fluss, bis sich dieser kühn in die Elbe ergiesst.
Meine Lebensstationen lagen immer wieder an Flüssen: geboren an der Donau, die viele Kulturkreise verbindet, als Studentin am schneeschmelzgefärbten Inn, einige Jahre verbrachte ich am vielseitigen Rhein, an der majestätischen Seine, am lieblichen Tiber und für sehr lange Zeit an der beharrlichen Rhone. Auf ihrem Weg vom Wallis bis nach Genf strömt sie elf lange Jahre durch den Genfer See. Doppelt so lange hielt ich mich in Calvins Stadt auf.
Fluss und See wachsen hier zu einem Feuerwerk an landschaftlicher Intensität und Schönheit zusammen und inspirierten Dichter und Musiker zu künstlerischen Höheflügen. Sogar ein Monster wurde an diesen Wassern geboren: Mary Shelly erschuf hier an der Rhone – in einem ungewöhnlich regenreichen Sommer 1816, der das Ergebnis des durch den indonesischen Vulkanausbruch monatelang verdüsterten Himmels war -, die literarische Figur von Frankenstein.
Vor fünf Jahren kam ich nach Zürich an die fast ländlich anmutende Limmat. Letztere erschien mir als eine gemächlichere und sanftere Variante der Flüsse, an denen ich mich zuvor aufgehalten hatte. Vielleicht aber spiegelte die Limmat auch meinen in reifere Jahre gekommenen inneren Gemütszustand wider: Ich war ruhiger geworden, wie ein Fluss, der sich sein Bett geschaffen hat und nach den jugendlichen Stromschnellen und unterschiedlichen Lebensgefällen nun einen beschaulicheren Weg gefunden hat. Ich bin wohl nun, wie so manches jahrelang transportierte Flussgestein, kantengerundet.
Am Ufer der Limmat habe ich junge händchenhaltenden Paare beobachtet, die da, wo die Limmat in den See mündet, Münzen in die Tiefe des Flusses werfen, um wie beim Trevi-Brunnen eine Rückkehr mit dem Geliebten zu erbitten.
Meine Großtante trällerte in meiner Kinderzeit oft das aus den 1930er Jahren stammende Lied „ich möchte‘ so gerne wissen, ob sich die Fische küssen, denn unterm Wasser sieht man‘s nicht und oberm Wasser tun sie‘s nicht“. Wie hat diese Vorstellung der einander abschmatzenden Fische meine Schwestern und mich erheitert!
Die Mythenwelt der Griechen und der Römer färbten ebenfalls auf meine Leidenschaft fürs Wasser ab. Flussgötter waren kraftvolle Geschöpfe, Nymphen mit Blumen im Haar verzauberten tanzend und singend die ihnen hoffnungsvoll erliegenden Männer. Meine jugendliche Bücherwelt der Volksmärchen und Sagen erzählte von der Wonne und den Wagnissen am und im Wasser. In meiner Heimatstadt Linz beispielsweise wurden im Mittelalter Bäcker, die zu kleines oder minderwertiges Brot verkauften, bestraft, indem sie in einem sogenannten „Schandkorb“ vor dem schadenfrohen Blicken des Volkes in die Donau getaucht wurden, bis sie sich öffentlich entschuldigten.
Ich war etwa vierzehn Jahre alt, als wir in der Schule Goethes Gedicht «Der Fischer» durchnahmen, welches mir erstmals verbale Sinnlichkeit näherbrachte. Die letzten Zeilen der den Fischer verführenden reizvollen Nixe am Fluss kenne ich immer noch auswendig:
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; da war’s um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin, und ward nicht mehr gesehn.
Solche Wasserjungfrauenkräfte hätte ich wohl auch gern besessen, es blieb aber lediglich bei Mitternachtsbäder, nackt mit meinen Freundinnen bei Vollmond im Meer. Wir lachten in die Wellen und fühlten uns frei, jung und mondnachtschön.
Irgendwann mal werde ich doch noch eine Haarlocke abschneiden und in die Limmat werfen.