Der Winter, besonders der Dezember, symbolisiert das Ende eines Zyklus und den Beginn eines neuen. Es ist der Moment, in dem ich meinen überbordenden Schreibtisch aufräume, um für das neue Jahr Platz zu schaffen. Dabei fällt mir ein Zitat von Marie Luise Kaschnitz wieder in die Hände, das ich irgendwann auf einen gelben Zettel gekritzelt habe:
Das Alter ist für mich kein Kerker, sondern ein Balkon, von dem man zugleich weiter und genauer sieht.
Ich halte inne, unterbreche das Aussortieren der Papierstöße und lasse die letzten Monate Revue passieren. Das Thema des Alterns hat mich in diesem Jahr immer wieder beschäftigt. Ich habe viel über das Älterwerden nachgedacht, gelesen und aufwühlende Gespräche mit Freundinnen und Freunden geführt, die weit über 80 Jahre alt sind – Menschen, die ich seit jeher als weise empfinde und deren Lebensphilosophie ich hochachte und selbst anstrebe.
Ursula, Ilse und Gerhard sind für mich Vorbilder: mit ihrer Freude an allem Neuen, ihrem Mut, sich auf die Veränderungen der Zeit einzulassen – selbst inmitten technologischer Umbrüche – und ihrem gütigem Herzen, das verzeihen kann und niemals nachtragend ist. Von ihnen habe ich gelernt, dass das Alter keine Grenze ist, sondern ein Raum der Erkenntnis – ein Horizont, der uns lehrt, das Leben in all seinen Facetten zu schätzen und die Schwelle zum Unbekannten ohne Angst zu überschreiten.
Das Zitat von Marie Luise Kaschnitz bestärkt mich, wenn ich es lese. Was für eine optimistische Perspektive auf das Altern: Befreiung statt Einschränkung. Ein Balkon, der den Betrachter erhebt und ihm eine neue, umfassendere Sicht schenkt. Etwas Ähnliches habe ich selbst erlebt, als ich im letzten Februar eine Woche lang als „Eremitin“ in einem Turmzimmer des Linzer Mariendoms lebte und vom Balkon, der rundherum führte, auf die Stadt hinabblickte. Dieser Perspektivwechsel hat mich aufgewühlt, ja fast euphorisch gestimmt. Plötzlich sah ich die Dinge „anders“. Sind nicht genau das die Worte von Kaschnitz? – Eine Einladung, das Alter nicht als Defizit, sondern als Gewinn zu betrachten? Sie ermutigen dazu, die Weisheit, die Distanz und die Klarheit des Alters als ein Geschenk zu begreifen und das Leben aus einem neuen Blickwinkel zu würdigen.
Ein weiterer Grund, warum ich mich dieses Jahr so intensiv mit dem Thema beschäftigt habe, ist der Kurzgeschichtenband „Fragen hätte ich noch – Geschichten von unseren Großeltern“. Darin teilen 30 Autorinnen und Autoren ihre persönlichen Erinnerungen an ihre Großeltern – und ich habe die Erzählung „Die Krücken meines Großvaters“ dazu beigesteuert. Das Lesen der vielfältigen Großelternerlebnisse der anderen Autorinnen und Autoren war wie ein Kaleidoskop lebendiger Bilder. Manche Opas und Omas konnte ich förmlich vor mir sehen und hätte ihren Worten liebend gerne zugehört.
Bei unseren zahlreichen Lesungen in der Schweiz und in Österreich kamen oftmals Menschen aus dem Publikum auf uns zu und sagten: „Auch ich habe viel von meinen Großeltern gelernt. Manche fühlten sich regelrecht aufgewühlt und wollten mehr über ihre Familiengeschichte herausfinden. Jüngere Zuhörer fühlten sich bestärkt, die ältere Generation, solange sie noch lebt, gezielt zu befragen.
Beim Durchsehen weiterer Stapel – und ich glaube, das kann kein Zufall sein – stoße ich auf ein weiteres Zitat. Meine Schwester hatte es mir einmal zum Geburtstag „geschenkt“, indem sie es als Schlusssatz in ein selbst verfasstes Gedicht eingefügt hatte:
„Ich bin zu alt, um nur zu spielen, zu jung, um ohne Wunsch zu sein.“
Dieser Satz sagt mir so deutlich, dass das Leben in keinem Alter wirklich abgeschlossen ist. Es ist ein Nachdenken über die Zwischenräume des Lebens – jene Momente, in denen man nicht mehr das Alte und noch nicht das Neue ist. Und es ermutigt mich, das Streben nach Sinn und Erfüllung in jedem Lebensalter voranzutreiben, selbst wenn sich die Spielregeln des Lebens verändert.
Wolfram Schneider-Lastin hat an seinem Geburtstag über das Älterwerden nachgedacht und dazu einen philosophisch-humorvollen Text mit dem Titel „Fehler im Amt“ geschrieben. Darin heißt es: „Letzten Monat wurde ich 72 Jahre alt. Was, ich? Ich doch nicht. Wenn ich mein Alter nenne, kommt es mir vor, als spräche ich über eine fremde Person. Ich, 72? Jemand mit 72 ist doch alt, steinalt, ein Greis gar. Da stimmt doch etwas nicht … Ich bin mir ganz sicher: Mein Alter ist ein Tippfehler.“
Mit diesem augenzwinkernden Blick auf das eigene Alter bringt er die oft absurde Diskrepanz zwischen der Zahl auf dem Papier und dem inneren Lebensgefühl wunderbar auf den Punkt, ich schmunzle, denn es ergeht mir sehr oft genauso.
In Elke Heidenreichs Buch „Altern“ habe ich einige interessante Ideen entdeckt. Sie hat ein sehr persönliches Buch geschrieben, das Mut macht und offen über das Älterwerden spricht. „Alle wollen alt werden, niemand will alt sein.“ Wie können wir lernen, so gut wie möglich mit dem Altern umzugehen? Ist es möglich, alt zu werden und gleichzeitig ein erfülltes Leben zu führen? Heidenreich reflektiert mit einem Gedanken, der hängen bleibt: „Das meiste ist vollkommen unwichtig. Man sollte einfach atmen und dankbar sein.“
Beim Philosophicum in Lech, das ich seit acht Jahren regelmäßig besuche, fesselte mich während einer der inspirierenden Vorträge der berühmte Satz von Kierkegaard:
„Es ist ganz wahr, was die Philosophie sagt, dass das Leben rückwärts verstanden werden muss. Aber darüber vergisst man den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muss.“
Dieser Gedanke umschreibt so treffend das Spannungsfeld zwischen Reflexion und Handeln, zwischen dem Verweilen in der Vergangenheit und dem Gehen in die Zukunft.
Meine Linzer Großtanten, deren Lebensgeschichten ich in meiner Trilogie aufblätterte, sind für mich ein Beispiel dafür, wie wichtig es ist, ein Leben rückblickend zu betrachten, um es in seiner Tiefe wirklich zu verstehen. Schon als Kind habe ich meine drei Großtanten geliebt und ihre Stärke gespürt. Doch erst heute, nachdem ich durch Nachforschungen einige Lücken in ihren Biografien schließen konnte, sind sie für mich zu wahren Heldinnen geworden.
Nun ist der Schreibtisch aufgeräumt, Platz für Neues geschaffen. Ich freue mich schon darauf, all die spannenden Zitate, die ich in den kommenden Monaten entdecken und auf neuen, langsam wachsenden Stapeln zur Ruhe legen werde – kleine Schätze, die ich in einem Jahr wiederentdecken darf.
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