Vom versunkenen Dorf und einem Kloster auf dem Berg

Nach meiner Eremitage im Turm des Linzer Mariendoms nahm ich mir vor, jedes Jahr eine Auszeit an einem Ort der Stille zu verbringen. Ende Oktober war es so weit. Ich fuhr über das lärchengelbe, magische Engadin in den Vinschgau. Für einen Moment berührte ich mein Heimatland Österreich, ehe ich italienischen Boden erreichte, als wollte das Leben mir zeigen, dass Heimkehr manchmal nur so lang wie ein Atemzug ist. 

Bevor ich an meinem Ort der Ruhe ankam, hielt ich an einem Ort der Unruhe: beim versunkenen Dorf Graun am Reschensee. Ich wollte auf dem Weg einen Ort sehen, der mich seit Langem fasziniert und in einem großartigen Buch beschrieben wird: Ich bleibe hier von Marco Balzano (siehe meine Buchtipps)

Das Dorf wurde 1950 überflutet, als man den See aufstaute. Auf alten Fotos sieht man die letzte Prozession durchs Dorf, Menschen mit Fahnen, Kinder an der Hand, kurz danach verschwand Graun. Nur der romanische Kirchturm ragt noch aus dem Wasser, trotzig, mahnend, wie ein Fingerzeig gegen das Vergessen. Vielleicht berührt mich diese Geschichte so sehr, weil sie vom Verlust erzählt und vom unbeirrbaren Weiterleben.

Graun im Vinschgau – Wikipedia
de.wikipedia.org

Vom See sind es nur fünfzehn Minuten bis zum Benediktinerkloster Marienberg. Hoch über dem authentischen Dorf Burgeis thront es auf 1.340 Metern: ein helles Ensemble aus weißen Mauern und rotbraunen Dächern, eingebettet in herbstlich gefärbte Wälder. Dort werde ich fünf Tage verbringen. Schreiben verlangt Konzentration, Stille, Präsenz. In einer Zeit, in der Ablenkung allgegenwärtig ist, schenkt ein Kloster etwas Seltenes: ununterbrochene Zeit. Kein Telefon, keine Termine, kein Lärm, nur der eigene Atem, das eigene Denken, das beruhigende Glockengeläut. Viele Autorinnen sagen, und ich habe es bei meinem ersten Eremitinnendasein selbst erfahren, dass sie dort zum ersten Mal wieder wirklich hören, was in ihnen klingt.

Ich wohne in einer der sechs Gästezellen, mit einem kleinen Turm, in dem sich ein Lese- und Schreibplatz verbirgt.

Im Unterschied zu meiner Woche als Eremitin im Linzer Mariendom bin ich diesmal nicht ganz allein, sondern teile den Gästetrakt mit fünf anderen Rückzugssuchenden. Und ich muss keine 395 Stufen erklimmen. Fast fühle ich mich „erfahren“: Ich weiß inzwischen, wie sehr mich Stille begeistert und nicht ängstigt. Wie sehr mich das Wissen „Zeit zu haben“ in einen regelrechten Ideenrausch versetzt.

Das Kloster beherbergt eine traumhaft schöne Krypta, eine beeindruckende Bibliothek und ein Museum, das Einblick in das Leben der Mönche gibt. Ich streife durch Kirche, Gänge und Garten, lasse den Blick über Mauern, Bögen und Fresken gleiten, bis mich die Atmosphäre fast emporhebt, in einen Zustand, den ich nur hier verspüre.  

Unten, in der Krypta, wachen vierundzwanzig Engel mit farbig gefiederten Flügeln und strengem Blick. Meisterwerke romanischer Malerei, geschaffen von einem Mönch im 12. Jahrhundert. Ihr Blau, aus Lapislazuli und Silberpulver, leuchtet kühl und kostbar, dennoch haben sie zutiefst menschliche Gesichter.

Bei der Führung mit Pater Anselm erfahre ich, dass Engel in der christlichen Tradition in verschiedene Hierarchien eingeteilt sind. Diese Ordnung spiegelt in gewisser Weise menschliche Gesellschaftsformen wider, hierarchisch, aber zugleich organisch gedacht: Jede Stufe steht für eine andere Nähe zum göttlichen Licht, so wie Menschen in unterschiedlichen Rollen wirken.

Sie sind keine sanften Himmelsboten, sondern mächtige, ehrfurchtgebietende Wesen. In der Bibel beginnen sie ihre Erscheinungen oft mit den Worten „Fürchte dich nicht!“  ein Hinweis darauf, dass ihre Nähe erschreckt. Rilke bezeichnete Engel als „schrecklich“, weil sie übermächtige Wesen sind,  zu groß, zu rein, zu wahr. Vor diesen Gestalten spüre ich, was er in den Duineser Elegien meinte:
„ Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen,
und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,
uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.“

Im modernen, unterirdischen Bibliotheksbau des Klosters ruhen heute rund 130.000 Bücher – ein Eldorado für Schreibende, Lesende, Forschende. Mein Buch über meine Eremitage im Linzer Mariendom hat hier ebenfalls seinen Platz gefunden.

In der Stille wird das Denken weicher, Erinnerungen steigen auf und das Fremde zeigt das Vertraute in einem neuem Licht. Auf den Wegen rund ums Kloster liegen Findlinge, Steine, die Gletscher einst getragen und achtlos wieder abgelegt haben. Sie erinnern mich an mich selbst: verschoben, geglättet und doch nie verloren.

Einige Tage des Rückzugs erlauben es, Ordnung in Gedanken und Gefühlen zu schaffen. Sie stellt sich fast von selbst ein, vielleicht durch die historische Kulisse oder die stille Präsenz der Mönche, die ganz in sich aufgehoben scheinen.

Sind sie glücklich, erfüllt? Ich spreche intensiver nur mit dem Bibliothekar und Archivar. Er wirkt streng, verschlossen. Eigentlich möchte ich ihm sagen, wie sehr mich dieser Ort berührt, doch es ergibt sich nicht in ein Gespräch.Am Abend nehme ich an der Vesper teil. Die wenigen verbliebenen Mönche, es sind nur noch sieben, betagte Männer, treten langsam in den Chorraum. Ihre Stimmen erheben sich, die Psalmen fließen ineinander, in gleichmäßigem Rhythmus, ruhig und getragen, auf Deutsch gesprochen. Ich bin die Einzige, die an dieser öffentlich zugänglichen Vesper teilnimmt. Das stimmt nachdenklich, wohin geht die Kirche? Wer wird an diesem großartigen Ort leben, wenn die letzten Mönche gestorben sind ?

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