Künstlerresidenzen – Zeit, Raum, Austausch

„Die Residenz gab mir Raum, meine Prioritäten neu zu ordnen, intuitiver und offener zu arbeiten und meine Praxis tiefer im lokalen Umfeld zu verankern.“
Marco Calderon, mexikanischer Künstler, derzeit „Artist in Residence“ in Montreux

„Artist in Residence“ (AIR) ist ein Sammelbegriff für zeitlich befristete Stipendienprogramme für Kunstschaffende unterschiedlichster Disziplinen – von Literatur, Musik und Tanz bis hin zu Bildender Kunst, Architektur und Design. Ziel ist es, kreatives Arbeiten an einem neuen Ort zu ermöglichen, verbunden mit Unterkunft, Atelier, finanzieller Unterstützung und vor allem: Zeit, Raum und Inspiration.


Kunstförderung hat eine lange Tradition – schon in der Antike wurden Künstler von Mäzenen unterstützt. Das Mäzenatentum verfolgte dasselbe Ziel wie heutige Programme: Kunstschaffenden eine Phase kreativer Freiheit zu ermöglichen, frei von finanziellen Zwängen. Viele bedeutende Werke – Gemälde, Texte oder Kompositionen – konnten nur dank dieser Unterstützung entstehen.
An die Stelle von Fürsten und Königen sind heute Kulturinstitutionen, Stiftungen und öffentliche Förderstellen getreten – doch das Prinzip ist im Kern dasselbe geblieben.

Ich selbst habe das Glück, in einem Haus zu leben, in dem seit 2018 regelmäßig ein solches Programm stattfindet: Zweimal jährlich kommt ein mexikanischer Künstler aus Malerei, Fotografie oder visueller Kunst für fünf Monate nach Montreux. In einem kleinen Studio, das zugleich Atelier ist, entstehen neue Werke, Workshops und Ausstellungen, die auch das Leben in der Altstadt bereichern.

Weltweit gibt es Residenzen mit ganz unterschiedlichen Formaten: Manche bieten Rückzug und Konzentration, andere fördern gezielt Austausch – oft spartenübergreifend. Der Ort selbst prägt die Erfahrung entscheidend mit.

Die Programme sind begehrt, meist kompetitiv und werden öffentlich ausgeschrieben. Je nach Ausrichtung gehören auch Präsentationen – Lesungen, Ausstellungen oder partizipative Formate – dazu. Internationale Residenzen fördern den interkulturellen Dialog sowie langfristige Netzwerke und bereichern das soziale Leben.

Auch die Institutionen, wie Kulturzentren, Museen, Cafés in denen ausgestellt wird gewinnen: Sie werden sichtbarer, bringen künstlerisches Leben an ihren Ort und fördern kulturelle Vielfalt.

Wer sich näher mit dem Thema befassen möchte, findet auf der internationalen Plattform resartis.org umfangreiche Informationen. Ich empfehle außerdem, gezielt nach ‚Artist in Residence‘ in Kombination mit dem gewünschten Land zu suchen – viele regionale Programme sind online zugänglich.
Die Angebote reichen von wenigen Tagen bis zu mehreren Monaten. Träger sind Künstlerhäuser, Stiftungen, Hochschulen, Museen, Theater oder Städte. Meist wechseln die Fachrichtungen jährlich oder werden thematisch gebunden ausgeschrieben. Je nach Programm gelten unterschiedliche Anforderungen. Spezifische Bezeichnungen wie „Writer in Residence“, „Composer in Residence“ oder „Orchestra in Residence“ zeigen die Vielfalt – vom Einzelatelier bis zur Ensemblearbeit.

Mit drei Künstlern habe ich direkt gesprochen und sie nach ihren Erfahrungen gefragt:

Marco Calderon

Marco Calderon istderzeit „Artist in Residence“ bei Air-Montreux, beschreibt die Verbindung von lokaler Verwurzelung und internationaler Offenheit als besonders inspirierend.

„Der Fokus auf mexikanische Künstler passte perfekt zu meinen Recherchen über kulturelle Wechselwirkungen zwischen Europa und Mexiko. Die Residenz bot mir Zeit, ein lebendiges Umfeld und die Freiheit, meine Arbeit weiterzuentwickeln – kuratorisch und künstlerisch.“
„Die Ruhe Montreux’ hat meine Arbeitsweise verändert: intuitiver, fragmentarischer, kontemplativer. Ich verband Theorie und Praxis neu – mit Fokus auf die Umgebung.“
Marco Calderon

Calderon plante ursprünglich ein Projekt mit hybriden Kartografien, inspiriert von präkolumbischen Codices. Doch bald entstanden neue Formate – visuelle Essays, Texte, Fotografien. Meditation, Streifzüge am See und Begegnungen seinen Alltag.

„Die Ruhe Montreux’ hat meine Arbeitsweise verändert: intuitiver, fragmentarischer, kontemplativer. Ich verband Theorie und Praxis neu – mit Fokus auf die Umgebung.“
Marco Calderon

Ein Moment in den stillen Gassen der Altstadt führte ihn zum Projekt „Dix millions, la Suisse n’existe pas“, eine Untersuchung unsichtbarer Erinnerungen und Identitäten.

Er öffnete sein Atelier für Gespräche und Workshops mit anderen Künstlern – und empfiehlt Air-Montreux für alle, „die aufmerksam, offen und experimentell arbeiten wollen.“

Aetlier von Marco Calderon

Marco Calderón auf Instagram: @marcsanzman

Ruth Loosli

Ruth Loosli ist Schweizer Lyrikerin, war 2011 in Ventspils (Lettland) und 2025 als Gast der Landis & Gyr Stiftung in Zug.

Sie entschied sich bewusst gegen eine Großstadt und für die Ruhe. Morgens öffnete sie in Zug die Fenster zur Klostergartenseite frühstückte, arbeitete am langen Tisch in der Bibliothek. Der nahe Friedhof mit den blühenden Kirschbäumen wurde zum Ort der Einkehr, ebenso eine offene Kapelle, in der sie Obertongesang praktizierte.

„Die Tage waren still, erfüllt, voller Konzentration. Die wenigen Begegnungen mit anderen Stipendiaten waren intensiv und bleiben in Erinnerung.“
Ruth Loosli

Die Stiftung richtet sich an etablierte Künstler, ohne Altersgrenze. Looslis lyrischer Band „Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe“ und ihr Engagement für „Zürich liest“ stärkten ihre Bewerbung.

Ruth Loosli
Dies ist die Seite von Ruth Loosli, Schriftstellerin, lebt in Winterthur. Sie schreibt Lyrik und Prosa; letzte Publikation
ruthloosli.ch

Verena Dolvai

Verena Dolvai, österreichische Autorin und 2024 Shortlist-Kandidatin des Österreichischen Buchpreises, war zu Gast in der Villa Rabl in Bad Hall – eine „literarische Auszeit im Grünen“.

Der vierwöchige Aufenthalt ermöglichte konzentriertes Arbeiten inmitten von Natur und historischem Ambiente.
„Ich wollte Schreiben und Bewegung verbinden – und das gelang: morgens Kaffee, dann Schreiben, Laufen, Einkaufen, wieder Schreiben. Die Natur ringsum hat mich sofort inspiriert.“
Die anfängliche Einsamkeit wurde zur kreativen Befreiung. Entstanden sind ein umfangreiches Tagebuch und der Abschluss ihres Romans „Dorf ohne Franz“.
„Ein Moment seltener Klarheit“, sagt sie, „als würde sich eine komplexe Gleichung plötzlich lösen – ohne Rechnen.“
Sie empfiehlt die Residenz allen, „die Stille, Natur und einen großzügigen Arbeitsort suchen.“

Verena Dolovai » Lyrik. Prosa. Übersetzung.
www.verenadolovai.at

Helen Hopcroft

Über Helen Hopcroft, australische Autorin und Künstlerin, die im renommierten Keesing Studio der Cité Internationale des Arts in Paris war habe ich ein spannendes Interview gelesen.

Bekannt wurde sie durch ihr Projekt „My Year as a Fairy Tale“, in dem sie ein Jahr lang kostümiert als Marie Antoinette durch Maitland (Australien) wanderte.
In Paris arbeitet sie nun an einem autofiktionalen Roman über dieses Jahr – mit Recherchen in Versailles und der Conciergerie.
„Paris ist perfekt für dieses Buch“, sagt sie. Creative Australia fördert ihren Aufenthalt.

Helen Hopcroft: an artist’s life | An investigation into the line between art and life
An investigation into the line between art and life
helenhopcroft.com

Und wie sagte Marco Calderon so poetisch: Ich kam mit einer Idee – und ging mit einem ganzen Universum. Die Fremde wurde zur
Verbündeten meiner Kreativität.“

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2 Kommentare zu „Künstlerresidenzen – Zeit, Raum, Austausch“

  1. Liebe Christa,
    vielen Dank für den vertvollen Beitrag zum Thema Künstlerresidenz..
    Air-Montreux ein wichtiger Bestandteil unseres „Dorf-Lebens“ hier in der Altstadt von Montreux.
    Gemeinsam einen Gast beherbergen verbindet und erweitert das Blickfeld zugleich auf wunderbare Weise.

    1. christaprameshuber

      Absolut ! Wir müssen mehr darüber erzählen !
      Meine Erfahrung mit der Künstlern von air-Montreux waren immer absolut bereichernd !

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