„Die Kurzgeschichte ist ein Hochseilakt der Literatur“, las ich kürzlich in der Neuen Zürcher Zeitung. Ihre Kunst liegt in der Balance zwischen Kürze und Tiefe. Eine Kurzgeschichte ist eine knappe, verdichtete Erzählung, die meist einen Moment, ein Schicksal oder eine alltägliche Situation in den Mittelpunkt stellt. Sie hat wenige Figuren, beginnt oft unvermittelt, endet offen oder überraschend und lebt von Andeutungen, Atmosphäre und Konzentration aufs Wesentliche. Gerade heute, wo unsere Aufmerksamkeitsspanne schrumpft, erlebt die kleine Form neue Beachtung: Sie ist kompakt und leicht und doch tragen ihre wenigen Seiten das Gewicht großer Themen und Dramen.
Die Kurzgeschichte entwickelte sich mit dem Zeitschriftenboom in den USA. Edgar Allan Poe legte den Grundstein, Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald machten die Form groß. Im deutschsprachigen Raum wurde sie nach 1945 von Autoren wie Wolfgang Borchert und Heinrich Böll geprägt Und wer kennt sie nicht, Arthur Schnitzlers eindringliche Erzählungen oder Ilse Aichingers kunstvolle Kurzprosa? Der Schweizer Peter Bichsel zeigte die Kraft der Kürzestgeschichte und heute greifen junge Autorinnen und Autoren die Form mit frischem Mut wieder auf.
In den letzten zwei Jahren habe ich mich intensiv mit Kurzgeschichtensammlungen beschäftigt. Auslöser war eine Einladung von Herausgeber Wolfram Schneider-Lastin, für die Anthologie «Fragen hätte ich noch – Geschichten von unseren Großeltern» einen Beitrag zu verfassen. Ein Buch, das sofort Nähe stiftet: Großeltern kennt man, hat man oder man erinnert sich an Geschichten über sie. Dieses Projekt hat viel in mir und ebenso bei den anderen Autorinnen und Autoren ausgelöst: persönliche Erinnerungen, lebhafte Erzählungen, aber auch Begegnungen bei Lesungen, wo Menschen spontan Geschichten ihrer Vorfahren teilten. Das Buch hat inzwischen bereits seine dritte Auflage erlebt.
Oft höre ich im Freundeskreis: „Kurzgeschichten liebe ich, die kann man zwischendurch lesen, im Zug, vor dem Einschlafen. Und sie bleiben doch lange hängen.“ Genau das macht ihren Zauber aus. Sie öffnen kleine Fenster in fremde Welten, verdichten Schicksale auf engstem Raum. Jede Figur, jedes Detail zählt. Oft überraschen sie mit einer Wendung, enden offen, laden zum Weiterdenken ein.
Und doch: Im Buchhandel sind Kurzgeschichtensammlungen selten, vor allem solche mit Originalgeschichten Warum? Romane verkaufen sich besser: Man begleitet Figuren über viele Seiten und glaubt, «mehr» zu bekommen. Für Verlage sind sie einfacher zu bewerben: ein Roman, eine Geschichte, ein/e Autor/in. Eine Sammlung dagegen bedeutet viele Stimmen, viele kleine Welten. Und seit dem 19. Jahrhundert gilt im deutschsprachigen Raum der Roman als „Königsform“. Die Kurzgeschichte blieb die „kleine Schwester“.
Alice Munros Nobelpreis 2013 zeigt aber, dass die Kurzgeschichte nicht im Schatten des Romans stehen muss.
Kurzgeschichten funktionieren anders als Romane: Sie dehnen sich nicht aus, sie verdichten. Sie beginnen mitten im Geschehen, leben von Andeutungen, Lakonie und Doppelbödigkeit. Sie lassen uns zwischen den Zeilen lesen und zeigen im Kleinen das große Leben.
Im Februar 2026 erscheint im Arisverlag die von Wolfram Schneider-Lastin und mir herausgegebene Anthologie «Ich erröte vom Schaft bis zur Sohle – Schuhgeschichten». Die Sammlung vereint dreißig sehr unterschiedliche Originalbeiträge, in denen Schuhe eine zentrale Rolle spielen. Es ist die erste Anthologie, die der Verlag veröffentlicht, ein Wagnis, das wir begeistert gemeinsam eingegangen sind. Umso glücklicher sind wir, großartige Autorinnen und Autoren gewonnen zu haben, darunter auch Nelio Biedermann, über den man in den letzten Wochen viel gelesen hat, nicht zuletzt, weil er bereits als neuer Thomas Mann bezeichnet wurde.
Im März 2026 folgt dann die von mir initiierte Anthologie «Wannst net fort musst, dann bleib?» im Trauner Verlag: Erstveröffentlichungen oberösterreichischer Autorinnen, die dank ihrer Altersvielfalt, zwischen zwanzig und achtzig Jahren, sehr unterschiedliche Blicke auf das Bleiben und Fortgehen eröffnen.
Zwei Bücher, die beweisen: Die Kurzgeschichte ist quicklebendig und spricht in vielen Stimmen und Inhalten zu uns.
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